Rede an die Angst

Deshalb versuche ich nicht, meine Angst zu töten. Ich bekämpfe sie nicht; ich gebe ihr Raum. Viel Raum. Jeden Tag. Auch genau jetzt, in diesem Moment, gebe ich meiner Angst Raum. Ich erlaube meiner Angst, zu leben, zu atmen, es sich bequem zu machen. Je weniger ich meine Angst bekämpfe, desto weniger scheint sie zurückzukämpfen. Wenn ich mich entspannen kann, entspannt sich auch meine Angst. Tatsächlich ist meine Angst herzlich eingeladen, mich überallhin zu begleiten. Ich habe sogar eine kleine Begrüßungsrede für sie, die ich immer dann halte, wenn ich mich an ein neues Projekt oder Abenteuer mache. Sie lautet in etwa so: »Liebste Angst, die Kreativität und ich werden zu einer Reise aufbrechen. Ich weiß, dass du uns begleiten wirst, denn das tust du immer. Ich erkenne an, dass du glaubst, in meinem Leben eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, und dass du deine Aufgabe ernst nimmst. Anscheinend besteht diese Aufgabe darin, mich in schiere Panik zu versetzen, wann immer ich irgendetwas Interessantes tun will- und, wenn ich das sagen darf, du machst deine Sache hervorragend. Also bitte, erfülle deine Aufgabe, wenn du es für nötig hältst. Aber ich werde auf dieser Reise auch meine Aufgabe erfüllen, die darin besteht, hart zu arbeiten und konzentriert zu bleiben. Und die Kreativität wird ihre Aufgabe erfüllen, die darin besteht, anregend und inspirierend zu sein. Im Wagen ist Platz genug für uns alle, also mach es dir bequem, aber lass dir gesagt sein: Die Einzigen, die hier Entscheidungen treffen werden, sind die Kreativität und ich. Ich erkenne und respektiere, dass du zur Familie gehörst, deshalb werde ich dich nie von unseren Ausflügen ausschließen, aber dennoch deine Vorschläge werden niemals angenommen werden. Du darfst gern Platz nehmen, und du darfst dich gern äußern, aber du darfst nicht mit abstimmen. Du darfst die Karte mit der Route nicht berühren, du darfst keine Umwege vorschlagen, du darfst nicht an der Klimaanlage rumspielen. Süße, du darfst noch nicht mal ans Radio. Aber vor allen Dingen, meine liebe alte gute Freundin, ist es dir vollkommen untersagt , ins Steuer zu greifen. «

Elizabeth Gilbert: Big Magic. Nimm dein Leben in die Hand und es wird dir gelingen,
im Kapitel Die Reise.


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1 Kommentar zu „Rede an die Angst“

  1. […] Hier könnte uns unsere Kreativität behilflich sein. Wir könnten unsere Angst malen. Auf diese Weise externalisieren wie sie und können sie für uns sichtbar und (be-) greifbar machen. Wenn wir sie dann vor Augen haben, können wir uns dankbar zeigen dafür, dass sie uns schützen möchte vor dem Schmerz des Misserfolges und des Erfolgs und dann nehmen wir ihr die Bürde dieser Verantwortung ab. Wir sagen Danke, aber nein! Ich lasse mich ab jetzt nicht mehr von dir aufhalten! […]

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